Wer im Traum stirbt, — so heißt es — der sehnt sich insgeheim nach dem Tod.
Bruno starb regelmäßig in seinen Träumen, beinahe jede Nacht. Es fing vor zwei Jahren an, in Wien, nachdem er seinen Arbeitsplatz bei einem Konditor verloren hatte, da dieser eines Morgens tot in seinem Backofen aufgefunden wurde. Bruno musste sein Haus verkaufen und zog in eine schäbige, kahle Wohnsiedlung in Klagenfurt. Eine Beschäftigung suchte er nur halbherzig und daher auch vergeblich. Abends genehmigte er sich stets einen halben bis ganzen Liter Wein und torkelte ins Bett, schlief dort ein, ohne sich vorher umzuziehen, und starb dann meist gegen 3 Uhr durch Kugeln, Messer, wilde Tiere oder hohe Stürze.
Jeder hat sich einmal gefragt, wie er wohl sein würde, der letzte Moment seines Lebens. Würde man Schmerz empfinden? Würde man merken, wann es so weit ist, oder würde man unendlich sanft ins Jenseits hinübergleiten? Und was käme danach? Doch alle Antworten auf diese Fragen können letztendlich nur reine Spekulation sein. Bruno jedoch wusste mehr. In den ersten Monaten ließ ihn sein Unterbewusstsein immer kurz vor dem entscheidenden Moment auf brutale Weise aufwachen, wie eine Art Schutzmechanismus. Er fand sich dann meist aufrecht in seinem Bett sitzend wieder, stark verschwitzt, atmete tief durch, vergewisserte sich seiner Lebendigkeit und zog seine feuchten Klamotten aus, um weiter zu schlafen. Irgendwann begannen die Träume ihn in den Wahnsinn zu treiben. Aus Angst versuchte er nur noch so wenig wie möglich zu schlafen, doch alles Koffein dieser Welt verlor irgendwann seine Wirkung, und so konnte er zwar dem Schlaf ein paar Mal für zwei oder drei Tage entgehen, aber irgendwann kam er — und egal wie kurz er war, der Tod suchte ihn jedes Mal heim, und er erschien ihm jedes Mal grauenvoller als zuvor.
Schließlich nach einem halben Jahr — Bruno war nur noch ein Wrack und es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich einliefern lassen — fasste er den Entschluss, seine Träume tiefgründiger zu erforschen anstatt die hoffnungslose Flucht vor ihnen zu ergreifen. Er las zahlreiche esoterische Bücher über Traumkontrolle, Meditation und Astralreisen, welche er sich von einer Freundin auslieh, die er bislang auf Grund ihrer Neigungen immer belächelt hatte. Nun schlief er bis zu vierzehn Stunden am Tag, wobei er sich vorher lange auf den kommenden Traum vorbereitete und seinem Unterbewusstsein einredete, ihn nicht aufzuwecken, wenn sein träumendes Herz aufhören würde zu schlagen. Nach zwei Wochen erzielte Bruno einen ersten Erfolg. Nachdem er von einem Dach gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte, spürte er nach einigen Sekunden, wie er sich aus seinem Körper herauslöste und langsam in alle Richtungen gleichzeitig davon schwebte. Er konnte alle Dinge um sich herum aus allen Blickwinkeln zugleich betrachten, von außen wie von innen. Aber als er ein knisterndes Rauschen vernahm, verblasste seine Sicht, und er erwachte. Das gab ihm Hoffnung, und voller entdeckerischem Frohmut trat er von nun an seine Reisen in das Reich der Träume an.
Aber Brunos Freude sollte nicht lange anhalten, denn je weiter er in den Tod vordrang, desto beunruhigender wurde das, was er dort erlebte. Nachdem das Rauschen für kurze Zeit unerträglich laut wurde, verschwand es urplötzlich wieder, und er befand sich wieder in seinem eigenen leblosen Körper, sah die Welt durch seine toten Augen und war regungslos gefangen. Er erlebte endlose Wochen in seinem Sarg unter der Erde, spürte und roch seine eigene Verwesung und war zu nichts fähig außer geradeaus zu starren. Die Zeit verging unendlich langsam, und mit jedem Traum wurde sie länger und länger, während er tatsächlich nur wenige Stunden schlief.
Mit der Zeit vergingen in jeder Nacht Tausende von Jahren. Brunos Leiche war nach Jahrzehnten vollständig verwest, und die restlichen Jahre bis zum Erwachen verbrachte sein Bewusstsein einsam an derselben leeren Stelle unter der Erde, während über ihm Kriege tobten und Naturkatastrophen das Land heimsuchten. Nach einem Jahr erlebte er in jeder Nacht die nächste Eiszeit, und nach zwei Jahren wurde er schließlich Zeuge, wie sich die Sonne zu einem roten Riesen aufblähte, die Erde verbrannte und Milliarden Jahre später das Universum in sich zusammenstürzte. Dann kam die große süße Stille, der lange Zeit nichts folgte.
An einem grauen Novembermorgen grub man den Sarg des Wiener Konditors aus. Der Arzt bemerkte schauderhafte Kratzspuren im Inneren, die darauf hindeuteten, dass er lebendig begraben wurde. Mit seinen Fingernägeln hatte er Brunos Namen in das Holz geritzt.
Gekocht am 7. Oktober 2006.
Zuletzt aufgebraten am 16. Mai 2014.