Der Untergang des
Gammelimperiums

Im Zeitalter von zuckerfreier Cola mit vollem Geschmack — dem Produkt, das scheinbar zwei widersprüchliche Eigenschaften zu vereinen vermag — und einer Welle von Gammelskandalen steht das Wohlergehen des gemeinen Bürgertums auf des sprichwörtlichen Messers Schneide. Ein Besuch im Betrieb F., dem größten Fleischlieferanten der Bundesrepublik, war daher kaum vermeidbar. Lesen Sie nun die schockierenden und faszinierenden Details dieser All Inclusive-Reise.

Es ist ein grauer Montagmorgen, als der raffiniert als Maikäfer getarnte Journalistenbus seine vierzigminütige Fahrt nach R. antritt, der Heimatstadt des Fleischkonzerns F. Der für die Größe des Fahrzeugs viel zu schwache Dieselmotor müht sich sichtlich ab, die steile Schotterpiste zu erklimmen, die uns sicherer als die vermutlich verminte Zufahrtsstraße erschien. Schließlich erreichen wir bei strömendem Regen den gigantischen Schutzwall, der das gewaltige Areal zwiebelförmig umgibt. Der süßliche Geruch verfaulenden Fleisches vermischt sich mit der trüben Oktoberluft — für die zarteren Gemüter unter uns bereits zu viel, einige stürzen fluchtartig den Hang hinab und verschwinden als hysterisch schreiende Punkte im Nebelschleier. Wir Übriggebliebenen transformieren den Bus nach Anleitung in einen Enterhaken, mit dem wir den zwanzig Meter hohen Westwall ohne nennenswerte Verluste überwinden.

Im Inneren angelangt stehen wir fassungslos vor einer weitläufigen Fläche, deren Boden mit einer flockigen gelben Substanz belegt ist. Es gibt hier keine Gebäude, nur ein kleines grün angestrichenes Gartenhäuschen steht einsam im Zentrum. Es stellt sich als Eisdiele heraus, allein es fehlt der Verkäufer. Dies erscheint uns verdächtig, wir haken nach. Unter dem Eissortiment entdecken wir einen Abstieg in die Tiefe. Wir werfen einen müden und hastigen Blick hinein.

Ein riesiger unterirdischer Komplex tut sich unter uns auf. Leicht ätzende Luft steigt hinauf. Als sich der Schleier gelegt hat, sehen wir, welch unvorstellbare Dinge sich dort unten abspielen. Auf einem Schienensystem fahren große Wannen mit verwesenden Kalbshälften spiralförmig auf einen überdimensionalen Kessel zu, in dem eine übelriechende Brühe köchelt. Die Aufschriften, die mit dem Fernglas erkennbar sind, verheißen nichts Gutes: Das Fleisch, das wir hier vor Augen haben, stammt aus Restbeständen des ersten Weltkriegs. Gewissenlose Arbeiter mit Schutzanzügen und Gasmasken formen die abgekühlte Masse zu Spießen, Schnitzeln, Fischen und Frikadellen.

Der Drang zur Selbstjustiz lässt uns nicht zögern, die gesamte mitgebrachte Ladung Flüssigsprengstoff genüsslich in den Abgrund zu versprühen. Der anschließenden Zündung — einem Moment des freudigen Erwartens — folgt eine alles zerfetzende Druckwelle, die einen rauchenden Molekülbrei kilometerhoch in die Atmosphäre prügelt. Was als glitzernder Schimmer in einer harmonischen Parabelbahn zurück zur Erde sinkt, erweckt Stolz und Genugtuung in uns, denn hier verglühen die letzten Reste des Gammelimperiums.

Gekocht am 4. Oktober 2006.
Zuletzt aufgebraten am 11. Mai 2014.